Die Herausbildung des ukrainischen Nationalbewusstseins war stets von der Unterdrückung jener Imperien begleitet, unter deren Macht der Staat stand. Infolgedessen wird die unabhängige Ukraine auch heute noch von der Welt oft als Teil Russlands wahrgenommen (zumindest war das vor Beginn des Krieges 2014 der Fall), die ukrainische Geschichte, Sprache und Kultur wurden wahrgenommen als Nebenprodukt des russischen Erbes, und das ukrainische Volk hat einen Minderwertigkeitskomplex. Gräbt man jedoch tiefer, so gibt es zahlreiche Fakten, die auf eine Verfälschung der ukrainischen Geschichte durch Russland sowie auf die gezielte Zerstörung der Kultur und Sprache der Ukraine hinweisen. Warum ist das wichtig? Nicht zuletzt deshalb, weil Russland jetzt einen brutalen Krieg in vollem Umfang begonnen hat, der mit pseudo-historischen Fakten gerechtfertigt wird und als „Bestätigung“ dafür steht, dass die Ukraine Teil Russlands sein sollte. Die Grundlage der russischen Propaganda ist die Geschichte, die gestohlen, verändert und neu geschrieben wurde.

Seit langem ist es das Ziel, eine direkte Erbfolge von der Kyiver Rus auf die Moskauer Rus (ein alternativer Name für das Großherzogtum Moskau) zu ziehen, um den Eindruck zu erwecken, dass die Moskauer Rus erbberechtigt ist. Ohne eine machtvolle Vergangenheit ist es unmöglich, eine machtvolle Nation zu schaffen, und die russischen Zaren haben dies verstanden. Deshalb war es ab Iwan dem Schrecklichen (1533-1584) eine wichtige Aufgabe, sich die Geschichte der Kyiver Rus anzueignen und die „Mythologie“ des russischen Reiches zu schaffen. Eine Aufgabe, die eigentlich darin bestand, die ukrainische Geschichte, Kultur und Sprache vom Angesicht der Erde zu tilgen, und die die russische Führung bis heute zu verwirklichen versucht. Es war die Umsetzung dieser Aufgabe, die diesen besonderen Mythos der Brüderlichkeit zwischen der russischen und der ukrainischen Nation entstehen ließ, wobei natürlich der erstere als der ältere Bruder angesehen wird und der letztere ihm untergeordnet ist.

Zunächst einmal gab es während der Existenz der Kyiver Rus keine historische Erwähnung des Moskauer Staates. Der Staat Moskowien wurde 1277 gegründet, und zu diesem Zeitpunkt existierte die Rus bereits seit mehr als 300 Jahren.

Die massive Geschichtsfälschung wurde von Peter I. in die Wege geleitet. 1701 begann er mit der systematischen Ausrottung, Extraktion und Neuschreibung historischer Dokumente. Im Jahr 1716 „kopierte“ er die so genannte Königsberger Chronik, in der die Einheit der slawischen und finnischen Länder behauptet wurde. Die Forschungsarbeiten von den Historikern Nikodym Kondakov und Volodymyr Syzov liefern überzeugende Argumente dafür, dass es sich bei dieser Kopie um eine reine Fälschung handelt. Der Zugang zur „Kopie“ wie auch zum Original ist natürlich verschlossen.

Peter I. brachte eine große Zahl von Spezialisten aus Europa mit, darunter auch professionelle Historiker, die an der Abfassung und Verfälschung der Geschichte des russischen Staates beteiligt waren. Die bereits erwähnten Kondatov und Syzov sind sich insbesondere darin einig, dass die Bilder in der „Kopie“ der Königsberger Chronik deutsche Miniaturen und nicht das Leben in der Rus darstellen: Die Fürsten des Rostov-Suzdal-Landes tragen europäische Kleidung, und die Frauen tragen lange deutsche Kleider mit schmaler Taille.

Auf dieser Grundlage erklärte sich Moskowien am 22. Oktober 1721 zum Russischen Reich, und die Moskowiter:innen wurden zu Russ:innen erklärt. Auf diese Weise wurden die Ukrainer:innen ihres Erbes, der Geschichte der Kyiver Rus, beraubt.

Die von Peter I. begonnenen Fälschungen wurden von Katharina II. der Großen aktiv fortgesetzt, da sie eine beweiskräftige Grundlage für die Geschichte ihres Staates forderte. Deshalb setzte sie 1983 die „Kommission für die Zusammenstellung von Aufzeichnungen über die alte Geschichte Russlands“ ein. Die Kommission arbeitete 10 Jahre lang, insbesondere schrieb sie die „Geschichte des Ihor-Feldzuges“ und die „Geschichte vergangener Jahre“ neu und klassifizierte das Buch „Skythische Geschichte“ von Lysow, aus dem hervorgeht, dass die Bewohner Moskaus ein eigenständiges, unverwechselbares Volk sind, das nichts mit der Rus zu tun hat. Sie schrieben auch neue Zusammenfassungen der russischen Geschichte, die im 18. Jahrhundert verfasst wurden, aber so dargestellt wurden, als stammten sie aus dem 11., 13. und 14.

„Um sich die Geschichte der Kyiver Rus anzueignen und diesen Diebstahl aufrechtzuerhalten, mussten die Welykorosy (der Name des Volkes, das auf dem Gebiet des heutigen Russlands lebte, übersetzt: großes Rus-Volk) das ukrainische Volk unterdrücken, es in die Sklaverei treiben, es seines eigenen Namens berauben und es verhungern lassen“, schreibt Jaroslaw Daschkewitsch. Im Zusammenhang mit diesen Fälschungen ist es interessant, die sowjetischen Repressionen aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten.

In der Geschichte der Sowjetunion gab es ab den 1920er Jahren mehrere Perioden großer Hungersnöte, die vor allem mit der Kollektivierung und der Aufstellung von Getreidebeschaffungsplänen zusammenhingen, die einen enormen Druck auf die Bauernschaft ausübten. Zunächst einmal wurde die Ukraine nicht umsonst als Kornkammer der Sowjetunion bezeichnet, und in der Tat richtete sich sogar die Aufstellung unrealistisch hoher Pläne für die Lieferung (wahrscheinlich wäre es korrekter, es als Zwangsentnahme zu bezeichnen) von Getreide gegen die ukrainische Bevölkerung. Nur Bauern aus der Ukraine und dem Kuban war es verboten, ihre Dörfer in Richtung Städte oder andere Sowjetrepubliken zu verlassen. Nach verschiedenen Schätzungen forderte der Holodomor (die Hungersnot) von 1932-1933 bis zu 10,5 Millionen ukrainische Menschenleben.

„The Ghost of Kyiv“, ein Werk von Liudas Barkauskas (von CreativesforUkraine entnommen)

Zweitens beraubte das kommunistische totalitäre Regime die Ukrainer:innen ihres kulturellen Erbes, zwang sie, sich von ihrer historischen Vergangenheit und ihren Traditionen loszusagen, und verbot die Sprache in all ihren Erscheinungsformen. Das Regime führte methodisch neue Bräuche und Rituale in der Ukraine ein und zerstörte nicht nur das physische, sondern auch das geistige Leben der Ukrainer:innen. Eine ganze literarische und künstlerische Generation wurde vom Sowjetregime ausgerottet, die heute als „hingerichtete Widergeburt“ bezeichnet wird. An nur einem Tag, dem 3. November 1937, wurden auf Beschluss außergerichtlicher Organe mehr als 100 Menschen, mehr als 100 Künstler:innen hingerichtet. Die Politik, die ukrainische Elite zu vernichten und die Ukraine ihrer Zukunft zu berauben, stand schon immer auf der Tagesordnung des Russischen Reiches, der Sowjetunion und Russlands.

Mit der Unabhängigkeit begann für die Ukraine ein neuer Weg, sich von den aufgezwungenen Ansichten über die eigene Unterlegenheit, die Rolle des „jüngeren Bruders“ und die Armut der eigenen Kultur und Sprache zu befreien. Die Revolution der Würde und der Beginn des Krieges im Jahr 2014 sowie der Beginn des umfassenden Krieges führten zu einem starken Anstieg des nationalen Bewusstseins und brachten die nicht so populären Fragen der Wiederherstellung der Gerechtigkeit in den verborgenen Teilen der ukrainischen Geschichte und Kultur sowie der nationalen Identität auf.

Doch auch in diesen 30 Jahren der Unabhängigkeit hatte man mit der Propagandamaschine der Russischen Föderation zu kämpfen, die ihre imperialen Ambitionen noch immer nicht aufgegeben hat. Heute ist es besonders auffällig, wie die Manipulation der Geschichte unsere Gegenwart beeinflusst. Die Rolle der Ukrainer:innen wird überall heruntergespielt, selbst im Zweiten Weltkrieg, obwohl die Daten über die Zahl der Toten eindeutig zeigen, dass die Ukraine und Belarus den größten Anteil der Bevölkerung bei der Verteidigung der universellen Werte verloren haben. In all den 30 Jahren der Unabhängigkeit dominierten die russische Sprache, Kultur und Geschichtsauffassung nicht nur im ukrainischen Raum, sondern auch in der Welt.

Jetzt hat sich die jahrhundertealte russische Propaganda in einen Mechanismus verwandelt, der dazu beiträgt, einen Krieg zu rechtfertigen. Der Präsident der Russischen Föderation beruft sich oft auf pseudohistorische Fakten und argumentiert, warum dieser oder jener Teil der Ukraine und anderer Staaten eigentlich russisches Territorium ist. Die europäischen Bürger:innen fragen sich ständig, ob es stimmt, dass Ukrainer:innen und Russ:innen brüderliche Nationen sind, oder ob es stimmt, dass die ukrainische Sprache nur ein Dialekt des Russischen ist. Und können wir den „historischen“ Quellen, die gewöhnlich zur Legitimierung solcher Ansichten über die Ukraine herangezogen werden, wirklich trauen, wenn wir wissen, dass sie seit Hunderten von Jahren gefälscht sind?

Jaroslaw Daschkewytsch schließt seinen Bericht mit den Worten: „Die Ukrainer:innen, die im 11. bis 12. Jahrhundert, vielleicht sogar schon früher, als Nation entstanden, wurden zu „Kleinrussen“ erklärt, und Russland begann, diese Version in der ganzen Welt zu verbreiten. Bei der geringsten Abweichung von dieser Auffassung wurden Menschen hingerichtet, vernichtet oder in den Gulag geschickt. Die Sowjetzeit war besonders brutal. Während dieser Zeit verlor die Ukraine mehr als 25 Millionen ihrer Söhne und Töchter, die in Kriegen für die Interessen Russlands, während der Kollektivierung, im Exil und in Konzentrationslagern starben.“ Dieser Bericht wurde bereits 2011 veröffentlicht, also bevor Russland 2014 den Krieg in der Ostukraine begann und vor dem Beginn eines umfassenden Krieges vor 132 Tagen (der Artikel wurde am 5. Juli fertiggestellt). Das ukrainische Volk verliert noch immer jeden Tag die Blüte seiner Nation im Kampf um die Freiheit. Diese Menschen sterben wegen der imperialen Ambitionen der ukrainischen Nachbarn, und keineswegs wegen ukrainischer Brüder.

Geschrieben von Anna Proskurina.

Übersetzt ins Englische von Anna Proskurina und ins Deutsche von Nele König.

Genutzte Quellen: