


Dieser Artikel wurde auf der Grundlage eines Interviews von Anna Proskurian mit Olena Germasimyuk verfasst, in dem sie über die Bedeutung der ukrainischen Kunst, insbesondere der Veteranenkunst, als Mittel zur Erinnerung, zum Verständnis und zur Vermittlung der Erfahrungen des ukrainischen Volkes an die breite Öffentlichkeit sprach. Der Artikel verwendet hauptsächlich den direkten Wortlaut Olena.
Das Phänomen der Veteran:innenliteratur in der Ukraine ist erst im Entstehen. Es gibt Autoren, die schon vor dem Krieg geschrieben haben und dann auf die Schlachtfelder zogen, wie Boris Humeniuk, Oleg Korotash, Yaryna Chornoguz. Das sind die etablierten Künstler:innen, die erkannt haben, dass Dichter:innen auch Soldat:innen sind, wie andere Menschen auch, und dass Dichter:innen auch neben ihrer Literatur etwas bewirken können. Daneben gab es aber auch absolute Naturtalente, die ein Phänomen erlebten, das ich als das Erwachen des Geistes bezeichne. Einigen Gelehrten zufolge gibt es mehr als 600 oder 800 Bücher, die von ukrainischen Kriegsveteran:innen geschrieben wurden, die also direkt an den Feindseligkeiten beteiligt waren.
Mein Großvater begann nach einer schrecklichen Operation infolge eines Arbeitsunfalls, Gedichte zu schreiben. Nachdem er diesen Zustand der Todesnähe erlebt hatte, begann er, die Welt anders wahrzunehmen, mehr Schönheit in ihr zu suchen, obwohl er schon vorher ein Mann der Künste gewesen war.
Jetzt sehe ich auch, dass viele Veteran:innen zu schreiben begannen, nachdem sie einen Zustand erlebt hatten, der mit nichts zu vergleichen ist, denn es ist eine Mischung aus wahnsinniger Sehnsucht nach Leben und ständigem Leben im Schatten des Todes unter diesen tödlichen Umständen. Das sind Menschen wie Vitaliy Zapeka, Vasyl Piddubny, das sind Hunderte von Namen heller Autor:innen, die geboren wurden, aufflammten und deren Licht noch lange nach dem Ende dieses Krieges leuchten mag.

Das Bild zeigt Olena Hermasimyuk mit ihrem Buch „Shooting Calendar“, das die sowjetische Unterdrückung in der Ukraine anhand des traditionellen Kalenders beschreibt.
Vitaliy Zapeka zum Beispiel hat eine interessante Geschichte. Er war unter Beschuss (an der Front – Anm. d. Red.) und überlegte, was er seiner Enkelin zum Geburtstag schenken sollte. Er dachte, er hätte wenig Geld und war kein großer Träumer, der sich etwas ausdenken konnte, was ihr gefallen würde, denn sie hatten sich schon lange nicht mehr gesehen, also beschloss er, ihr ein Märchen zu schreiben. Und er schuf ein Kunstwerk als Geschenk für seine Enkelin.
Ein ganz wunderbarer Fall eines solchen Schriftstellers, der im Krieg sein Talent entdeckte und dadurch einen zusätzlichen Schub seines Talents erhielt, ist Valery Guzyk. Meiner Meinung nach schreibt er einfach geniale Sachen. Vor dem Krieg hat er bereits geschrieben, er war ein Künstler. Aber seine Kurzprosa, die er nach seinem Eintritt in die Armee geschrieben hat, ist etwas Erstaunliches, etwas, das sich mit Kosynka, mit Vasyl Porotyak messen kann, etwas Bedeutendes. Eine solche Vielstimmigkeit von Figuren, Symbolen und Zeit-Raum, die er hat, kann durchaus für einen ganzen Roman geeignet sein, und er hat das Talent, sie in Kurzformliteratur umzusetzen.
Und das Gleiche gilt für die Poesie. Es gibt natürlich eine Menge Marschpoesie, die von den kosakischen Vorfahren der Ukrainer:innen verwendet wurde. Das ist gute Literatur, eindeutig, ohne künstlerische Bilder, mit konkreten Botschaften, die sogar für eine bestimmte Armeeeinheit geschrieben werden kann. Aber sie ist notwendig, sie ist die Basisliteratur, auf deren Grundlage etwas Großes entstehen wird. Denn etwas Großes kann kein „kugelförmiges Pferd im luftleeren Raum“ sein, es muss auf einer Grundlage des Volkes beruhen, das ist das Gesetz der Kunst. Nur wenn es eine Basiskultur gibt, nur dann kann etwas Großes entstehen. Diese Meinung haben viele Autor:innen geäußert, darunter Serhiy Zhadan, und sie steht auch in fast allen Lehrbüchern.
Die Literatur hat eine sehr starke psychologische Wirkung. Als ich im Krankenhaus für Kriegsveteran:innen in Lisova Polyana war, sah ich, was die afghanischen Veteran:innen lasen. Das hat mich zutiefst beeindruckt. Sie nahmen hauptsächlich russische Literatur, wie die billigsten Bücher über Afghanistan, Kandahar und so weiter. Denn in der ukrainischen Literatur ist die Veteran:innenschaft ein so verschwiegenes Thema, dass sie sich mit keiner der Figuren identifizieren können. Sie wissen nichts über Stowptschuk, über Uljanenko, der übrigens von einer beschämenden Kommission für nationale Moral in der unabhängigen Ukraine verboten wurde. Sie haben keinen Zugang zu dem, was wir als elitäre Literatur betrachten, aufgrund ihrer Bildung oder ihres mangelnden Interesses, aufgrund ihrer künstlerischen Vorlieben. Das war der Zeitpunkt, an dem ich erkannte, dass es sowohl eine Basis- als auch eine Eliteliteratur geben muss.
Ich habe den Eindruck, dass wir nach dem Krieg Leute brauchen, die die Literatur des Volkes prägen. Wir haben immer noch eine Menge russischer Basisliteratur, auf der Russland sein Propagandamodell aufgebaut hat. Diese Serien, Musik und Bücher scheinen nichts Besonderes gegen die Ukraine zu enthalten. Aber sie waren die Grundlage für die russische Propaganda in der Ukraine.
Natürlich wird die ukrainische Basisliteratur die Europäer:innen nicht berühren, denn sie ist etwas, das nur wir wahrnehmen können. Sie wird nie übersetzt werden und keine Funktion im Ausland erfüllen. Aber im Gegensatz zur Politik ist die Kunst ein sehr konzentriertes Phänomen, insbesondere die Poesie. Gute Poesie kann einen Menschen in den ekstatischen Zustand versetzen, den der lyrische Held in einem einzigen Moment erlebt. Das ist eine unmittelbare Aufgabe jeder guten Poesie, ob Propaganda oder philosophische Lyrik. Selbst wenn es ein Kranz von Sonetten ist, müssen diese Sonetten in diesen ekstatischen Zustand eintauchen. Das ist der Hauptzweck der Poesie. Natürlich braucht die Literatur eine gute Übersetzung, denn nach der Schopenhauer-Skala hat die Literatur die geringste Wirkung auf einen Menschen in einem anderen Land, da sie eine wirklich gute Übersetzung erfordert. Dennoch ist die künstlerische Kreativität eine konzentrierte, unsichtbare Kugel, die einfach zerspringt und ein Verständnis dafür vermittelt, was der:die Held:in fühlt, wenn ein:e Autor:innen es schafft, die Leser:innen in diese Welt eintauchen zu lassen.Die Rolle der Literatur lässt sich nicht mit Waffenlieferungen, Landpacht oder geopolitischen Spielen vergleichen, aber sie kann die Rolle übernehmen, dem europäischen Publikum die Erfahrungen der ukrainischen Gesellschaft und ihre Gefühle zu erklären.
Vor kurzem wurde ich zu einer Dichterlesung in Kanada eingeladen, bei der wir unsere Gedichte online vortrugen. Ich trug ein neues Gedicht über Mariupol vor, das einzige, das ich in dieser Zeit (seit dem Beginn des Krieges in vollem Umfang – Anm. d. Red.) geschrieben habe. Es war eher eine Antwort auf die Leute, die mich immer wieder fragten, warum ich nicht schreibe. Während des Krieges im Osten der Ukraine verteidigte ich Mariupol, wo mein Mannschaftsmitglied Mykola Volkov starb, und dies war der erste Verlust unseres Bataillons (das Hospitaliter-Bataillon, das 2015 von Yana Zinkevych gegründete Ukrainische Freiwillige Sanitätsbataillon – Anm. d. Red.) Mariupol war sehr wichtig in der Geschichte der Hospitaliter, und dieses Gedicht war eher eine Antwort auf die Frage „Was soll ich schreiben, wenn meine Leser:innen getötet werden, welche Gedichte? Welche Gedichte kann es danach noch geben?“ Aber jetzt erlebe ich, dass dieses Gedicht benutzt wird, um der Welt zu erklären, dass dieser Krieg stattfindet, und es ist der Tod, hier in der Ukraine finden Tod und Krieg statt.
Um dem ukrainischen und ausländischen Publikum Informationen zu vermitteln, arbeiteten wir an dem Projekt „Erschießungskalender“, das die sowjetische Repression in der Ukraine nicht in der üblichen chronologischen Reihenfolge, sondern anhand des traditionellen Kalenders systematisierte. Es werden nicht nur die Daten aufgezeichnet, sondern auch kurze Geschichten über das Schicksal von Menschen, die verfolgt und gefoltert wurden. Diese Geschichten sind strukturiert, trocken, emotionslos und mit Beweisen untermauert. Bevor ich krank wurde, hatte ich Gespräche über die Übersetzung des Buches „Shooting Calendar“. Man bot mir eine Übersetzung ins Englische und Deutsche an, um den Menschen, die diese Sprachen beherrschen, zu zeigen, dass dieser Krieg kein Zufall ist und nicht nur ein Konflikt. Es handelt sich um einen natürlichen Völkermord, der von Russland an der Ukraine verübt wird. Buchstäblich jeder Tag ist mit Blut befleckt. Es gibt keinen Tag in unserem Kalender, der nicht darauf hinweist, dass Russland seit Jahrhunderten diesen Völkermord an uns begeht.
Dieser Gedanke war oberflächlich, er war für mich immer offensichtlich. Ich interessierte mich für Literatur und kam nicht umhin festzustellen, dass in den Büchern, die ich studierte, nicht erwähnt wird, wie unsere Klassiker starben. In den Lehrbüchern, mit denen ich in den 1990er Jahren studierte, fand ich keine Beschreibung dieses Massensterbens, da es der sowjetischen Tradition entspricht, dies zu verbergen. Und doch hat mir mein Großvater davon erzählt. Deshalb habe ich gerade einen literarischen Kalender über den Tod unseres Volkes geschrieben. Zuerst wurde mir vorgeworfen, es sei ein sehr blutiges Werk, aber wie könnte es anders sein? Warum sollten diese Leiden unbemerkt bleiben? Wir können sehen, dass an einem Tag, dem 3. November, hundert Dichter:innen hingerichtet werden. Wie konnte das geschehen?
Unsere Projekte umfassen assoziative Karten. Wir haben Veteran:innen befragt und Karten über den Krieg in der Ukraine erstellt. Wir haben sie in zwei Versionen und verteilen sie im Ausland, um die Assoziationen der Menschen anzusprechen, z. B.: Was assoziierst du mit dieser Karte, und was assoziiere ich mit der ukrainischen?
Manchmal sind die Dialoge mit Menschen, denen wir diese Karten zeigen, beeindruckend. Nur so können die Menschen verstehen, dass wir die Welt anders sehen. Wir haben eine Karte, die den Himmel in Zellen auf metaphorische Weise abbildet. Und wenn jemand dort den Louvre sieht und wir sagen, dass der Bezug zu dieser Karte der Keller der Isolations-Folterkammer war (ein von der selbsternannten DNR in Donezk eingerichtetes Gefängnis, in dem seit 2014 Ukrainer illegal festgehalten und gefoltert werden – Anm. d. Red.), dann sind die Leute sprachlos. Es ist ein Aufbrechen von Mustern, ein Verstehen, dass das Leben nicht nur so ist, wie man es um sich herum sieht. Wo andere Schönheit sehen, sehen wir, die Ukrainer:innen, den Tod und versuchen, ihn zu überwinden.
Das Interview wurde von Anna Proskurina geführt und einige Teile davon in diesem Artikel zusammengefasst.
Übersetzt ins Englische von Anna Proskurina und ins Deutsche von Nele König.
