„Krieg geht jeden etwas an. Wenn Sie überleben wollen, wo auch immer Sie sich befinden, in der Region Zacarpatsky oder in Luhansk, müssen Sie die Erste-Hilfe-Maßnahmen kennen, Sie müssen wissen, wie Sie sich schützen können, wenn Russland hier Atombomben abwirft, usw. Das beginnt mit Ihrer eigenen Sicherheit als Bürger:in des Landes, das angegriffen wurde, aber es geht auch um Ihre Beteiligung.“
Der erste Gespräch in unserer Reihe #facetoface ist ein Interview mit Olena Herasymyuk.
Das Gespräch war sehr lang, emotional und intensiv, und wir sind stolz darauf, im Folgenden Einblicke in ihren Weg als Freiwillige, den Beginn des Krieges, die Bedeutung der Kunst in Gesprächen über den Krieg und die Verantwortung der europäischen Gesellschaft zu geben.

Bitte erzählen Sie uns die Geschichte wie sie zum Freiwilligendienst gekommen sind und schließlich Ihren Weg zur Sanitäterin.
Tatsächlich begann alles mit dem Maidan, der Revolution der Würde, als wir am 18. Februar von Berkuts (einer Polizeieinheit des ukrainischen Innenministeriums, die 2014 die kriminellen Befehle von Präsident Janukowitsch ausführte, Anm. d. Red.) beschossen wurden und als, so glaube ich, das ganze Land erkannte, dass es sich nicht nur um Kundgebungen, sondern um die Ermordung von Zivilisten handelte. Später wurde uns allen klar, dass dies der Beginn eines Krieges war. Also begann ich, die Maidan-Revolution zu unterstützen. Da ich aus Kyiv stammte, ging ich einfach zu den Zelten und fragte, was sie brauchten – es handelte sich um freiwillige Formationen, die Hundertschaften genannt wurden – und ging auch zur Kyiver Stadtverwaltung, die eines der Hauptquartiere der Aktivist:innen war, und begann dort zu helfen. Später nutzte ich all diese Erfahrungen, als der Krieg 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Donbas-Region begann und wir die Bedürfnisse unserer jungen Frauen und Männer decken mussten, die als erste in den Krieg zogen.
Ich habe 2015 meine ersten Kurse besucht (Erste-Hilfe-Kurse für Mediziner:innen – Anm. d. Red.). Auf dem Maidan, in Gesprächen mit Ärzt:innen, wurde mir klar, dass Medizin und Erste-Hilfe sehr wichtig sind. Deshalb habe ich Anfang 2015 Kurse besucht, um mich sozusagen vor dem zu schützen, was der „Himmlischen Hundertschaft“ widerfuhr („Himmlische Hundertschaft“ ist der Sammelname für die Demonstrant:innen, die während des Maidan getötet wurden – Anm. d. Red.). Ich habe versucht, mich geistig zu schützen.
Und wie kam es dazu, dass Sie sich den Hospitalitern (medizinisches Freiwilligenbataillon in der Ukraine – Anm. d. Red.) angeschlossen haben? Erzählen Sie uns ein wenig mehr über die Hospitaliter.
Ich habe mich freiwillig bei dem Ukrainischen Freiwilligenkorps gemeldet (eine freiwillige militärische Formation in der Ukraine, die seit 2015 aktiv ist und insbesondere an den Kämpfen um Awdijiwka in der ukrainischen Donbass-Region teilnahm – Anm. d. Red.). Die Hospitaliter sind eine Struktureinheit des Ukrainischen Frewilligenkrops. Heute bin ich immer noch in dieser Einheit, aber in einer anderen Position. Ich meldete mich freiwillig, sah mich aber nicht im militärischen Bereich, daher wurde ich als Sanitäterin aktiv.
Das Bataillon der Hospitaliter wurde direkt zu Beginn des russisch-ukrainischen Krieges im Jahr 2014 gegründet. Die Gründung des Bataillons feiern wir am 6. Juli, obwohl es schon vorher tätig war. Gegründet wurde das Bataillon von von Yana Zinkevych gegründet, als diese erst 18 Jahre alt war. Sie war ein junges Mädchen, das einen anderen Bedarf neben den Kampfeinheiten sah: Es gibt zwar die Kampfeinheiten, aber es gibt nicht genug Personen, die Menschen retten. Der Slogan des Bataillons lautet „Für jedes Leben“. Die Geschichte der Hospitaller begann und setzt sich fort für die Rettung jedes Lebens. Vor dem vollumfänglichen Krieg (der im Februar 2022 begann – Anm. d. Red.) hatten wir mehr als 3.000 Menschen gerettet, aber ich kann mich nicht mehr genau an das Jahr erinnern, in dem wir diese Anzahl an geretteten Leben gefeiert haben. Ich glaube, es sind jetzt viel mehr Menschen gerettet worden. Ein großflächiger Krieg bringt große Verluste mit sich. Aber auch große Siege.
Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die Rolle der freiwilligen Beteiligung der Öffentlichkeit am Krieg? Was ist die Verantwortung der Gesellschaft?
Ich erinnere mich an den Ausdruck „Auf 3 Hetmans (Anführer der ukrainischen Armee) kommen 2 Ukrainer“, der meist in einem humoristischen Kontext verwendet wird und bedeutet, dass die Ukrainer:innen untereinander so argumentierfreudig sind, dass sie immer mehr Chefs als das Volk selbst haben. Aber als ich mich mit der Geschichte der ukrainischen Armee beschäftigte, insbesondere mit den Ereignissen von 1918, zog ich eine große Parallele zu dem, was heute geschieht. Damals hatte jedes Dorf seine eigenen Anführer – Hetmans -, die das Gebiet, in dem sie lebten, verteidigten, und sie wurden von der „Freiwilligenarmee“ – nennen wir es mal so – des Gebiets, das sie verteidigten, ernährt, gekleidet und unterstützt. Es gab sogar ein Archivdokument, das irgendwo veröffentlicht wurde und in dem die „Freiwilligen“ der damaligen Zeit aufgefordert wurden, die militärischen Formationen ihres Landes zu unterstützen.
Wir sind die Nachfahren des Hetmanats, des Staates der Kyiver Rus (eines mittelalterlichen osteuropäischen feudal-monarchischen Staates mit der Hauptstadt Kyiv, der im IX. bis XIII. Jahrhundert existierte – Anm. d. Red.), daher würde ich diesen Spruch folgendermaßen interpretieren: Ohne eine Einheit von Front und Heck ist ein Sieg unmöglich. Dieses Problem ist sehr weitreichend, insbesondere im 21. Jahrhundert, wenn wir es mit einer hybriden Kriegsführung zu tun haben, die Informationsressourcen, geopolitische Kämpfe usw. einbezieht. Wenn es notwendig ist, sich an allen Fronten zu verteidigen, ist dies nicht mehr nur ein Problem des Militärs, sondern betrifft das Leben des ganzen Landes. Deshalb muss die Gesellschaft sofort auf solche Probleme reagieren und sie als ernsthafte Probleme behandeln.
Mir scheint, dass es 2014 immer noch Menschen gab, die auf infantile Weise dachten, der Krieg sei das Problem von jemand anderem. Im Allgemeinen wurden die Ereignisse als Problem beschrieben, nicht als Krieg. Aber das sind Kategorien von ganz anderem Ausmaß, und sie müssen anders angegangen werden. Krieg geht jeden etwas an. Wenn Sie überleben wollen, wo auch immer Sie sich befinden, in der Region Zacarpatsky oder in Luhansk, müssen Sie die Erste-Hilfe-Maßnahmen kennen, Sie müssen wissen, wie Sie sich schützen können, wenn Russland hier Atombomben abwirft, usw. Das beginnt mit Ihrer eigenen Sicherheit als Bürger:in des Landes, das angegriffen wurde, aber es geht auch um Ihre Beteiligung. Zweifelsohne muss die Gesellschaft einbezogen werden, wenn wir gewinnen wollen.
Die Antwort auf diese Frage ist bereits teilweise beantwortet worden, aber um Klarheit zu schaffen: Wann begann der Krieg in der Ukraine und warum?
Für mich ist die Antwort klar: Der Krieg begann, als die Berkut-Einheit das Feuer auf Zivilist:innen eröffnete. Das war das erste Anzeichen dafür, dass die Behörden gegen alle möglichen Gesetze verstoßen und einen verbrecherischen Befehl zum Töten von Zivilist:innen gegeben haben, welche mit absolut angemessenen Forderungen kamen, die nicht in der Scheiße leben wollten und einfach eine Besserung forderten; als junge Menschen verstümmelt wurden. Die Geschichte eines Mädchens, dessen Auge durchstochen wurde und ein Splitter des Projektils in ihrem Hypothalamus steckte, ist schrecklich – im Alter von 18 Jahren eine solche Verletzung zu erleiden, weil man anderen Menschen geholfen hat. Was ich damals, 2014, am ersten blutigen Tag der Revolution und bei meinen Einsätzen im Krieg (im Donbas – Anm. d. Red.) gesehen habe, war dasselbe. Das war der Beginn des Krieges.
Sie gehören zu denjenigen, die sich seit langem auf einen vollumfänglichen Krieg vorbereiten, aber es ist wahrscheinlich unmöglich, sich vollständig darauf vorzubereiten, haben Sie also an ein solches Ausmaß des Krieges geglaubt, was haben Sie am ersten Tag getan?
Dank unserer Kommandeurin Yana Zinkevych haben wir einige Monate vor dem Krieg mit den Vorbereitungen begonnen. Uns war klar, dass dieses Land nicht so viele Ressourcen und Ausrüstungen an die Grenze bringen würde, nur um uns wieder einmal Angst einzujagen. Aber ich dachte, dass nach den Olympischen Spielen etwas passieren würde. Ich hatte den Eindruck, dass Putin nicht so einen dreisten Schritt auf globaler Ebene unternehmen würde.
Wir begannen mit den Vorbereitungen, wie üblich. Wir waren auch eine der ersten, die auf die Ausrufung des Kriegsrechts im Jahr 2018 reagierten, und dann entschieden sich die Ukrainer:innen, die Verhaftungen von Seeleuten zu ignorieren (2018 beschlagnahmte Russland ukrainische Seeleute in der Straße von Kertsch, was dazu führte, dass am selben Tag in der Ukraine das Kriegsrecht ausgerufen wurde – Anm. d. Red.). Wir haben damals ernsthaft darauf reagiert, und das tun wir auch jetzt, denn Russland bringt uns bereits um. Wie kann man diesem Land glauben oder nicht glauben? Sie (die russische Regierung – Anm. d. Red.) werden immer sagen: „Wir töten euch, aber wir töten euch nicht“, was ein direktes politisches Gaslighting ist. Sie werden niemals die Wahrheit sagen. Aber alle Aktionen in der Nähe der Grenze und alle diese Militärübungen haben gezeigt, dass Russland früher oder später eskalieren wird.
Als Bürgerin von Kyiv habe ich bis zum letzten Moment nicht geglaubt, dass Kyiv in diese Belagerung geraten würde. Wahrscheinlich denkt jede:r, dass sein Land am besten geschützt ist, dass sein Haus unversehrt sein wird. In der Nacht vor dem Großangriff habe ich mit meinem Freund gesprochen und gesagt, dass Kyiv ein strategischer Punkt sein könnte, weil sie (die russische Regierung – Anm. d. Red.) uns den Kopf abschlagen wollen, und der Kopf ist Kyiv. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es eines der ersten Ziele sein würde, das sie aus der Luft angreifen würden. Und eine Stunde später hörte ich die ersten Explosionen der Luftabwehrsysteme.
Sie sind Sanitäterin und haben in diesen 8 Jahren offensichtlich viel gesehen. Was hat Sie während dieses langen Krieges am meisten beeindruckt?
Wahrscheinlich war ich von meiner Rückkehr (aus dem Einsatz – Anm. d. Red.) am meisten beeindruckt.
Im Krieg ist alles einfach: Hier ist dein Feind, hier ist dein Freund, hier ist deine Aufgabe und der Bereich deiner Verantwortung, Befehle, auf die du dich verlassen kannst. Das ist eine sehr vereinfachte Welt, sie ist sehr offensichtlich. Wenn man im Krieg ein solches psychologisches Trauma erleidet, und ich behaupte, dass niemand aus dem Krieg angemessen oder gesund zurückkommt, nimmt das einem auf die eine oder andere Weise die Ressourcen. Dieser Kontrast zwischen dem Krieg und der zivilen Welt und die Veränderung, die in mir stattgefunden hat, haben mich sehr beeindruckt.
Als ich nach einer langen Rotation zurückkehrte und mit der Behandlung begann, da ich wegen einer Krankheit zurückkommen musste, war ich am meisten beeindruckt, ich sollte es vielleicht direkt sagen, von der Bestialität und Demütigung, die die Ukrainer:innen mir entgegenbrachetn, weil ich eine Veteranin bin. Zuallererst möchte ich die Ärzt:innen erwähnen. Als ich 8 Monate lang in der akuten Phase (der Tuberkulose – Anm. d. Red.) behandelt wurde, gab es nur sehr wenige Spezialist:innen, die mich angemessen behandelten. Die erste Ärztin, eine Tuberkulose-Ärztin, bat mich, mein Vlies zu entfernen. Im Krankenhaus gab es keine Heizung, und ich trug mein Militärvlies, um mich warm zu halten. Die Ärztin bestand darauf, dass sie, wenn ich es nicht ausziehen würde, fälschlicherweise vermerken würde, dass ich nicht behandelt werden wolle, und sie würde mich aus dem Krankenhaus werfen. Sie sagte ich solle zusammen mit den Unzulänglichen wie mir behandelt werden. Sie sagte auch, dass Leute wie wir, die zurückgekehrt sind (von dem Feld – Anm. d. Red.), zuerst in einem Irrenhaus untersucht werden sollten und erst dann wieder unter normalen Menschen sein dürften. Sie hat nicht einmal die spezifischen Worte „Krieg“ oder „Veteranin“ benutzt, sie hat sie umgangen. Entweder, weil sie ein schlechter Mensch ist, oder weil sie sich ihrer Ängste nicht bewusst ist.
Als ich nach der Chemotherapie in eine neurologische Klinik ging, sagte mir eine Psychiaterin, die Vortests durchführte, das Gleiche. Sie wollte mich nicht einweisen, sondern hat mich einfach drei Tage lang mit unbekannten Medikamenten vollgestopft. Drei Tage lang wusste ich nicht, was ich tun sollte, lag nur auf der Station und weinte. Und am letzten Tag, als man mich wegbrachte, weil ich nicht selbst gehen konnte, sagte sie, dass alle Veteran:innen Idioten seien, dass wir kein Recht auf ein normales Leben hätten, weil wir Mörder:innen seien. Obwohl ich nie eine Waffe in die Hand genommen habe und obwohl alle meine Mannschaften keine einzige 200er (Armeecodierung, die den Transport eines toten Soldaten bedeutet – Anm. d. Red.) hatten, habe ich jede:n einzelnen Verletzte:n lebend ins Krankenhaus gebracht. Als ich eine Erklärung über diesen Vorfall schrieb, ließ diese Ärztin es so aussehen, als ob ich dort nie behandelt worden wäre, und alle meine Unterlagen aus dem Krankenhaus waren vernichtet worden.
Ich frage mich, ob der Krieg in Kyiv diese Menschen verändern wird. Jetzt ist es beliebt zu rufen, dass wir alle Veteran:innen sind, wir sind alle Freiwillige, wir sind alle Präsident:innen. Nun, nein, nicht alle von uns. Den Krieg in der Ukraine gab es schon vor dem 24. Februar, aber leider wurden die Freiwilligen und Veteran:innen vorher nicht gewürdigt. Das ist es, was mir am meisten negativ aufgefallen ist.
Worauf führen Sie diese Reaktion zurück? Werden wir eine verantwortungsvollere Gesellschaft, bewusstere Menschen erleben?
Nun, jetzt ja. Diejenigen, die sich so grausam verhielten, übertrugen einfach ihre irrationale Angst und schleuderten sie auf die Menschen, die bereits etwas Schreckliches durchgemacht hatten. Es ist eine Sache, eine:n Veteran:in einfach anzuspucken, weil man ein ungewohntes Gefühl empfindet und nicht weiß, wie man mit einem solchen Schock umgehen soll. Natürlich ist in diesem Fall der:die Veteran:in an allem schuld, von den geringen Gehältern der Ärzt:innen bis hin zu der Tatsache, dass der:die Veteran:in (zur Armee – Anm. d. Red.) gegangen ist, und Sie nicht.
Aber jetzt sind wir alle Zeug:innen des Krieges, der sich leider über die beiden Regionen hinaus ausgebreitet hat. Jetzt kann niemand mehr in irgendeinem Teil des Landes sicher sein, weil alle Regionen unter Beschuss stehen. Das wird uns auf die eine oder andere Weise verändern. Wir befinden uns jetzt in einem Zustand des akuten Traumas, aber später werden wir solche Probleme haben, deren Lösungen wir so weit wie möglich suchen müssen. Natürlich wird uns das alles verändern, und ich hoffe zum Guten.
In unserem Leben gibt es noch viele sowjetische Ideen. Ich hoffe, sie werden verschwinden, weil sie nicht gebraucht werden. So wie die Lenin-Denkmäler verschwinden, so werden auch all diese Prägungen, einschließlich der psychologischen, die wir noch haben, aus unserem Leben verschwinden. Das Schlimmste, was uns geblieben ist, ist die Angst vor der unsichtbaren Sowjetunion, und jetzt habe ich große Hoffnungen, dass diese Angst, die bei einigen Menschen sehr stark ist, überwunden wird.
Wir erleben derzeit eine sehr starke Welle patriotischer Gefühle, die wahrscheinlich zum ersten Mal alle gesellschaftlichen Kreise durchdringt. Wir befinden uns in einer Zeit des Plakats, wenn man in der Sprache der Kunst spricht, in der alles klar ist, alles offensichtlich ist, alles schwarz und weiß ist. Besteht die Gefahr, dass wir in diesem Zustand verharren, besteht die Gefahr, dass damit die Grundlage für ein autoritäres Regime in unserem Land geschaffen wird?
Das ist eine interessante Frage, und es fällt mir schwer, sie zu beantworten, denn ich habe keinen Abschluss in Politikwissenschaft, und dies ist ein Gebiet, das wahrscheinlich die Politikwissenschaft und die Soziologie betrifft.
Im Übrigen bin ich mit dem Teil über die Einheit, den Sie gesagt haben, nicht einverstanden. Wenn wir uns an das Referendum von 1991 erinnern, als sich die Ukraine von der Sowjetunion verabschiedete, dann erinnere ich mich, dass mehr als 90 % für die Unabhängigkeit stimmten. Das heißt, wir hatten tatsächlich dieses Potenzial. Wenn ich die Memoiren von Seeleuten lese, die damals versuchten, sich von der Schwarzmeerflotte zu trennen, dann sehe ich, dass diese Welle politisch unterdrückt wurde. Die Politiker:innen, so die Leute, deren Memoiren ich gelesen habe, waren sehr amöbenhaft. Sie konnten diese Trennung von der UdSSR weder persönlich noch aus anderen Gründen akzeptieren.
Die Revolutionen (Orangene Revolution und Revolution der Würde, bekannt als Maidan – Anm. d. Red.) haben die Hoffnung geweckt, dass die politische Elite genauso denkt wie das Volk, jetzt, da diese Bewegungen alle betroffen haben. Natürlich hatten wir Präsidenten, auf deren Entscheidungen wir uns immer noch verlassen, wenn wir beweisen wollen, dass Russland seit mehr als einem Jahrhundert einen Völkermord an uns verübt. Insbesondere Juschtschenkos Entscheidung, den Holodomor (die von Stalin bewusst herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine 1932-1933, der 10,5 Millionen Ukrainer zum Opfer fielen – Anm. d. Red.) als Völkermord anzuerkennen. Wir können uns auf diese offizielle Anerkennung stützen, um zu erklären, dass diese ganze blutige Geschichte schon seit 100 Jahren andauert.
Aber jetzt erleben wir eine wirklich beispiellose Einheit. Ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird, aber auf jeden Fall ist es ein Volkskrieg, es ist ein Krieg um unser Land, und wir selbst werden den Wert unseres Heimatlandes erhalten. Wir haben unsere Wurzeln gespürt, und das ist das Wichtigste. Ich habe den Eindruck, dass es für uns in Zukunft keine totalitäre Geschichte geben wird, die Ukrainer:innen sind sehr sensibel für solche Dinge. Aber es muss so etwas wie eine Linie geben, der wir folgen werden. Denn die Existenz eines Phänomens wie OPZZH (Oppositionsplattform – Für das Leben, eine prorussische politische Partei in der Ukraine – Anm. d. Red.) oder der Kommunistischen Partei ist nicht mehr möglich.
Befreit Propaganda von der Verantwortung?
.Nichts entbindet von der Verantwortung. Es gibt eine bekannte Redewendung: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Die Berkut zum Beispiel, die Einheit, die ein ganzes Volk zum Krüppel machte, stand unter dem Einfluss der Propaganda der Kommandeur:innen, die sie davon überzeugten, dass sie fast Übermenschen seien. Sie sagten, dass „die Berkut geschaffen wurde, um Gutes zu tun“, obwohl es sie laut Gesetz gar nicht geben dürfte. Das ist ein solches Paradoxon. Aber das entbindet sie nicht von ihrer Verantwortung. Sie werden die Konsequenzen ihres Handelns zu spüren bekommen.
Jede:r kann an ein Spaghettimonster glauben, aber jede:r wird trotzdem von den Gesetzen der Menschen, unter denen er lebt, zur Rechenschaft gezogen.
Und auch die Propaganda ist davon nicht ausgenommen, denn das Gesetz strukturiert nicht die Ursachen, sondern die Folgen. Wenn diese Folgen kriminell waren, spielt es keine Rolle, ob die Propaganda Sie dazu verleitet hat oder ob es Ihre persönliche Absicht war. Sie müssen sich trotzdem vor dem Gesetz verantworten.
Wie ist es, eine Frau in der Armee zu sein, eine Frau im Krieg?
Dies ist eine umfassende Frage, zu der wir mit dem Invisible Battalion (einem globalen Projekt, das sich für die Stärkung der Stellung der Frauen in der ukrainischen Armee einsetzt – Anm. d. Red.) eine Umfrage durchgeführt haben, an der ich sowohl vor als auch nach meinem Kriegseinsatz teilgenommen habe.
Für mich war es leicht. Ich glaube, am schwierigsten war es für die Mädchen, die als erste in den Kampf zogen, die als erste diese Probleme erlebten, wenn eine Frau, sagen wir, eine Angreiferin ist und in der Militäreinheit, in der sie dient, als Näherin registriert wird und ihr gesagt wird, dass sie die Arbeit der Soldaten nicht stören darf. Aber sobald eine Frau wie 10 Männer arbeitet, wird sie zur Kampfoffizierin in der Schlacht selbst. Glücklicherweise war meine Erfahrung nicht sehr traumatisch. Es gab einige unangenehme Ereignisse, als man mir sagte: „Warum brauchen wir hier eine Frau“, und dann wurde ich eingeladen, weiter in dieser Einheit zu arbeiten. Ich kann sagen, dass die Menschlichkeit überwogen hat. An manchen Stellen war man nachsichtig mit mir, und an anderen Stellen gab man mir mehr Aufgaben, damit ich mich in der Praxis bewähren konnte.
Auf jeden Fall ist die Situation im Vergleich zu dem, was wir 2014 gehört und beobachtet haben, jetzt ganz anders. Jetzt kann jede Frau in der Armee sie selbst sein, wenn sie diese Art von Arbeit meistern will. Diese Veränderungen in der Armee haben sich vor allem auf die zivile Welt ausgewirkt. Wir haben bereits über die Verbindung zwischen der zivilen Welt und dem Militär gesprochen, aber zusammen mit der Öffnung von Stellen in der Armee, als es Frauen endlich erlaubt wurde, in den Stellen in der Armee zu arbeiten, wurden 400 weitere zivile Stellen eröffnet. Die lustigste von ihnen ist “der rote Fischmetzger”. Das heißt, Frauen war es verboten, roten Fisch zu tranchieren, bei weißem Fisch war es erlaubt, aber bei rotem Fisch nicht. So absurd waren diese Gesetze, die angeblich jemanden schützen sollten, obwohl wir wissen, dass die Sowjetunion nie Gesetze erlassen hat, die irgendjemanden dort schützen würden, außer der herrschenden Elite und der Propaganda-Linie.
Wie stark ist die Sprache der Kunst im Dialog über den Krieg zwischen der Ukraine und Europa?
Natürlich wird die “Graswurzel-Kunst” (Graswurzelbewegungen, Initiativen, die aus der Basis der Bevölkerung entstehen – Anm. d. Red.) keinen Einfluss auf die Europäer:innen haben, sie wird nie übersetzt werden und keine Funktion im Ausland erfüllen.
Aber unter unseren Projekten gibt es zum Beispiel assoziative Karten. Wir haben Veteran:innen befragt und ein Kartenset mit dem Namen MAK450 in zwei Versionen erstellt, das wir nun außerhalb der Ukraine verteilen, um mit den Menschen Assoziationsspiele zu spielen, z. B.: Was assoziierst du mit dieser Karte und was ist meine, ukrainische, Vision?
Manchmal sind das beeindruckende Dialoge mit denen, denen wir diese Arbeit zeigen. Nur so können die Menschen verstehen, dass wir die Welt anders sehen. Wir haben eine Karte, die den Himmel in einer Zelle im metaphorischen Sinne darstellt. Und wenn jemand dort den Louvre sieht und wir sagen, dass der Bezug zu dieser Karte der Keller der Isolations-Folterkammer war (ein von der selbsternannten DNR in Donezk eingerichtetes Gefängnis, in dem seit 2014 Ukrainer:innen illegal festgehalten und gefoltert werden – Anm. d. Red.), sind alle sprachlos. Es bricht alle Muster auf und schafft ein Verständnis dafür, dass das Leben nicht nur so ist, wie der:die Einzelne es um sich herum sieht. Wo man Schönheit sieht, sehen wir den Tod und versuchen, ihn zu überwinden. Visuelle Kunst braucht keine Übersetzung, deshalb ist sie so mächtig.
Was sollte die europäische Gemeinschaft Ihrer Meinung nach über diesen Krieg wissen und was sollte sie tun?
Wenn wir die Ukraine als die Front betrachten, dann ist Europa unsere Rückseite. Und, um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen, es gibt keinen Sieg ohne die Einheit von Front und Rückseite. Daher all diese Dinge wie Landpacht, Waffenlieferungen und die Wahl geeigneter Präsidenten. Und die Erkenntnis, dass unser Land so zerstört ist, dass Städte wie Kharkiv zerstört sind, in denen Millionen von Menschen leben. Das ist ein Trauma von einem solchen Ausmaß, dass selbst ein Ukrainer:innen, ein Einwohner von Kharkiv, es nicht vollständig begreifen kann. Das ist etwas, das überhaupt nicht hätte passieren dürfen.
Und Europa muss dies als Tatsache akzeptieren. Denn Krieg ist ein sehr körperliches Phänomen. Man muss ihn entweder durchleben und am eigenen Leib verstehen, was ich aber niemandem empfehlen würde, oder man muss sich auf das Wort derer verlassen, die ihn bereits durchlebt haben. Leider gibt es keine dritte Möglichkeit. Der Krieg vereinfacht auch solche Dinge. Entweder man entscheidet sich für die Seite der Gerechtigkeit, oder der Krieg kommt zu einem.
Deshalb muss sich Europa meiner persönlichen Meinung nach als das Rückseite zur Front zu erkennen geben. Wenn wir uns nicht zurückhalten, dann zeigen uns die Geographie und die grundlegende Logik, dass das nächste Land Polen sein kann, dann kann es Deutschland sein, dann kann es ein anderes Land sein.
Wie hat das Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind, Ihre Weltanschauung beeinflusst?
Mein Großvater hat mich von Geburt an aufgezogen. Meine Eltern nahmen mich erst auf, als ich 7 Jahre alt war. Die Zeit, in der ich als Person geformt wurde, in der die psychologischen Aspekte der Persönlichkeit in diesem Alter geformt wurden, sind die Bemühungen meines Großvaters.
Er war wahnsinnig stolz auf seine Schüler:innen, er war ein ausgezeichneter Lehrer und ein Mann, der von den Russen für seine Arbeit angegriffen wurde. Zumindest weiß ich von 3 Fällen. Im ersten Fall wurde mein Großvater in den Wald gebracht, wo sie bereits den Schuldirektor eines Nachbardorfes getötet hatten, und man sagte ihm, er sei der Nächste. Ein anderer Fall war, als mein Großvater zur Armee eingezogen wurde und bei einem Schwimmwettbewerb gegen einen Russen gewann. Während er sich auf die nächste Etappe des Wettkampfs vorbereitete, wurde er mit einem Stein auf den Kopf geschlagen. Eigentlich sollte mein Großvater ertrinken, aber er konnte sich befreien. Der dritte Moment war, als mein Großvater direkt bedroht wurde, aber auch aus dieser Situation konnte er sich irgendwie befreien.
Und meine Großmutter überlebte den Holodomor, ihr erstes Wort als Kind war „Brot“. Nicht einmal „Mutter“, sondern „Brot“… Tatsächlich haben sie und mein Großvater mir, nachdem sie das durchgemacht hatten, die Idee in den Kopf gesetzt, dass Russen diejenigen sind, die einen verachten, nur weil man als Ukrainer:in geboren wurde. Nicht, dass sie mir etwas wie „Hasst sie“ gesagt hätten, nein. Sie erzählten einfach, was sie selbst durchgemacht hatten, und ich verstand es.
Als ich unter dem ersten Mörserfeuer stand, wurde ich wie betäubt, obwohl das für mich eine ungewöhnliche Reaktion auf solche Momente ist. Dank der Person, die mich geschubst hat, ist nichts passiert. Aber ich war wie betäubt, weil ich Erinnerungen an die Erzählungen meiner Großmutter hatte. Sie erzählte mir von ihrem ersten Mörserbeschuss während des Zweiten Weltkriegs, als sie ein Kind war. Sie beschrieb es wortwörtlich so, wie es war, so kraftvoll, richtig, wie das Pfeifen des 120-Kalibers klingt, wie das Pfeifen der Kugel klingt oder des 80-Kalibers. Sie gab mir das Geräusch wieder, und als ich es zum ersten Mal in meinem Leben erlebte, war ich fassungslos über die Tatsache, dass so viele Jahre vergangen sind und uns dies wieder widerfährt. Es war eine große Offenbarung, und ich denke, es ist der stärkste Moment, durch den ich veranschaulichen kann, wie die Erziehung unser zukünftiges Leben beeinflusst. Wir werden seit 300 Jahren unterdrückt, das ist keine Metapher aus der Literatur, das ist eine Tatsache. Endlich sind wir uns dessen jetzt bewusst. Das ist sehr mächtig, und wir werden nie wieder in den Gulag kommen, zumindest werden wir nicht in ihm leben können.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich einige Ihrer Interviews gelesen habe, und in einem davon sagten Sie, dass der Glaube sehr wichtig ist. Nicht unbedingt an Gott, aber der Glaube an alles. Woran glauben Sie denn jetzt?
Ich würde mich wahrscheinlich nicht als sehr religiösen Menschen bezeichnen. Ich habe eine besondere Einstellung zur Religion, weil mein Urgroßvater zu denjenigen gehörte, die den Segen von Sheptytsky erhielten (Rektor der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – d. Red.). Mein Großvater war derjenige, der herausfand, wie man sie während der Sowjetunion erhalten konnte und wie man die Fresken und Gemälde aus dieser Zeit bewahren konnte. Seine Schwester investierte in die Restaurierung dieser Kirche und schuf eine Einheit um sie herum. Ich betrachte die Religion eher aus der Sicht dieser routinemäßigen Kirchenarbeiter:innen, d. h. ich betrachte die Religion als ein Element der Einheit. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht, das weiß niemand. Aber wenn ich die Einheit der Menschen um eine Idee, um eine Kirche, um einen Sieg sehe, dann nenne ich das Glauben.
Dieser animalische Wunsch, normal zu leben, ein menschliches Leben zu führen, den ich an der Front gesehen habe, wenn man weint, betet, nicht im Feuer sterben will, aber in den Kampf zieht. Wenn ich solche Menschen in einem solchen Zustand sah, nannte ich das Glauben.
Wenn es etwas Göttliches in meinem Leben gab, dann waren es wahrscheinlich die Taten dieser Menschen, die sich direkt vor meinen Augen abspielten. Menschen, die bereit waren, sich selbst um anderer willen zu opfern, wenn es nötig war, haben einen absoluten Glauben. Dieser Glaube, dass es ein Leben nach dir gibt und sonst nichts. Wenn ich an etwas glaube, dann glaube ich auch an dies.
Dieses Interview wurde durchgeführt und ins Englische übersetzt von Anna Proskurina.
Übersetzt ins Deutsche von Nele König.
