„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist der eine Satz, den in deutschen Schulen jeder Schüler mehrfach im Unterricht gehört hat, das ist der eine Satz, den jeder als erstes im Kopf hat, wenn man ihn bittet, das deutsche Recht zu umschreiben – auch weil es der erste Satz des deutschen Grundgesetzes ist – und er gehört zu einem dieser Sätze, auf die jeder demokratische Staat stolz ist. Dazu passt das ukrainische Menschenrechtsgesetz: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten. Die Rechte und Freiheiten des Menschen sind unveräußerlich und unverletzlich.“

Dieser erste Absatz des deutschen Gesetzes und sein ukrainisches Pendant klingen sehr ähnlich, und beide Sätze geben jedem das Recht auf ein Leben in Würde. Zu sein, wer immer man will, mit wem immer man will und vor allem, wo immer man will, ohne Angst um seine Sicherheit. Dieses Recht gilt nicht nur innerhalb der Grenzen eines Landes, sondern muss auch über die Grenzen der EU hinaus eingehalten werden. Denn es war Clarence Darrow, ein Anwalt aus einem anderen demokratischen Land, den USA, der sagte: „Man kann seine Freiheiten in dieser Welt nur schützen, indem man die Freiheit des anderen schützt. Du kannst nur frei sein, wenn ich frei bin.“

Da Deutschland einer der wichtigsten Akteure in der EU ist und die Werte der EU mit diesen Aussagen übereinstimmen, ist es dann nicht die Verantwortung der EU selbst und Deutschlands, der Ukraine nicht nur mit Mitteln zur Bewältigung des Krieges zu helfen, sondern auch mit der Zusicherung eines fairen Prozesses und dem Versprechen eines geeinten Europas? In dem Sinne, dass alle EU-Länder an die definierten Bedingungen, nämlich die EU-Werte, einschließlich Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Menschenrechte, glauben und danach arbeiten.  

Während der Krieg in der Ukraine uns gelehrt hat, dass die Abhängigkeit von einem Land, das nicht im Geringsten den europäischen Werten entspricht, eine schlechte Idee ist, fragt man sich, warum selbst innerhalb der EU Partnerschaften mit ähnlichen Idealen wie in Russland gepflegt werden. Homophobes und frauenfeindliches Verhalten verstößt eindeutig gegen die Werte der EU, findet aber dennoch in EU-Ländern wie Polen und Ungarn Anklang. Die Istanbul-Konvention, ein Abkommen zur verstärkten Verfolgung und Bestrafung von sexualisierten Straftaten gegen Frauen, wurde von der EU bereits 2011 zur europaweiten Durchsetzung freigegeben, wurde aber bis heute nicht von allen europäischen Ländern ratifiziert. Bulgarien, die Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Litauen und die Slowakei haben die Konvention noch nicht ratifiziert, Polen will sich zurückziehen und die Türkei ist letztes Jahr aus dem Abkommen ausgetreten.

Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Ukraine in dieser Angelegenheit zu glorifizieren. Die Ukraine hat die Istanbul-Konvention auch nach langem Hin und Her noch nicht ratifiziert, da das ukrainische Parlament den Geschlechtsausdruck ablehnt, weil er schnell zu neuen Zwängen wie der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe führen könnte. Leider ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Ukraine noch nicht vollständig. So ist es beispielsweise nur Frauen und Kindern erlaubt, das Land zu verlassen, nicht aber Frauen, die als biologische Männer geboren wurden. Die Rechte der LGBTQ+-Gemeinschaft sind noch ausbaufähig, aber die Situation bessert sich. Schließlich gibt es in der Armee Männer, Frauen und nicht-binäre Menschen, die Seite an Seite für ihre unbestreitbaren Rechte, für die Rechte aller und für die europäischen Werte kämpfen.

Es liegt nun an der EU, diesen Kampf zu unterstützen, aber auch Missstände bei den vorgeschriebenen Vereinbarungen zu missbilligen und zu verfolgen. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang die Genfer Konvention, ein Regelwerk, das nur in Kriegszeiten angewandt wird und dem Schutz der Zivilbevölkerung, der Verwundeten und Kranken dient.  Allein mit dem Vergehen, Zivilisten zu verletzen, hat Russland die Regeln der Konvention bereits mehrfach im großen Krieg in der Ukraine missachtet. Die Liste der Verstöße ist sehr lang. Ausgehend von diesen Vermutungen stellt sich die Frage nach einem Prozess wegen Russlands Aggressionshandlung nicht nach dem Ob, sondern nach dem Wie. Wie sollen die Initiatoren und Verbündeten dieses Krieges zur Rechenschaft gezogen werden?

Auf der einen Seite gibt es den Internationalen Gerichtshof (IGH). Der IGH ist ein Organ der Vereinten Nationen und hat die Aufgabe, die Einhaltung des Völkerrechts zu gewährleisten. Die Ukraine hat bereits eine Klage gegen Russland vor Gericht eingereicht. Sollte der IGH Russland für schuldig erklären, könnte nur der UN-Sicherheitsrat (UNSC) die Anklage erheben. Da Russland jedoch als eines der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats eine besondere Rolle spielt, könnte es ein Veto einlegen und würde damit wahrscheinlich jegliche Sanktionen verhindern. Der IGH wird also nicht funktionieren oder nur symbolische Bedeutung haben.

Kunstwerk von Alexandra Dzhiganskaya (genauso wie das Titelbild, entnommen von CreativesforUkraine)

Auf der anderen Seite gibt es den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), eine Allianz zwischen den beteiligten Regierungen, die dazu dient, Verbrechen auf internationaler Ebene zu untersuchen, aber auch Einzelpersonen für alle Arten von globalen Verbrechen zu bestrafen. Der IStGH arbeitet über das Römische Statut zusammen, einen Vertrag, der die Grenzen von Verbrechen im Krieg und darüber hinaus festlegt. Staaten aus allen Kontinenten sind vertreten, mit den größten Ausnahmen der USA, Russlands, Indiens und Chinas. Der IStGH verfügt nicht über eine Verfolgungspolizei und ist daher auf die Zusammenarbeit der Staaten angewiesen. Da Russland nicht Mitglied des Gerichtshofs ist, ist die Anrufung des IStGH, um Russland zur Verantwortung zu ziehen, nur eine symbolische Option.

Alternativ könnte ein separates internationales Tribunal, das von der EU unterstützt und eingerichtet wird, eine gute Idee sein, um Verbrecher außerhalb Russlands zu verfolgen, wie es die Nürnberger Tribunale mit den Verbrechen der Nazizeit getan haben. Wenn sich genügend Staaten an dieser Form des Prozesses beteiligen würden, hätten die Täter weniger oder gar keine sicheren Räume außerhalb der Russischen Föderation. Die Unmöglichkeit, sich zu verstecken oder Russland überhaupt zu verlassen, könnte Kriegsverbrechern das Leben schwer machen und dazu führen, dass sie schneller inhaftiert werden. Diese Prozesse wären allerdings relativ langwierig und würden nicht alle in der Ukraine begangenen Verbrechen abdecken und wahrscheinlich auch nicht die Hauptverantwortlichen des Krieges erfassen. Dennoch könnte dies ein brauchbarer Anfang sein.

Die Wahrung der Menschenwürde hat in der europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus höchste Priorität. Verstöße gegen diese etablierte Norm sollten in höchstem Maße bestraft und nicht durch milde Sanktionen hingenommen werden. Natürlich ist es nicht immer einfach, diese Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen, insbesondere auf internationaler Ebene, aber es ist auch keine Option, das Verhalten von Staaten zu dulden. Dies gilt nicht nur für Kriegsverbrechen, sondern auch für Verbrechen gegen die Menschenwürde, wie die Duldung von frauenfeindlichem oder homophobem Verhalten im Rahmen der EU selbst. Es wird immer wieder betont, dass es besser wird, aber wir sind noch nicht ganz am Ziel. Es ist, wie Elie Wiesel, ein amerikanischer Autor und Überlebender des Holocaust, einmal sagte: „Wo immer Männer und Frauen wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Ansichten verfolgt werden, muss dieser Ort – in diesem Moment – zum Zentrum des Universums werden.“

Geschrieben von Katharina Bews.

Übersetzt ins Ukrainische von Anna Proskurina und ins Deutsche von Katharina Bews.

Benutztes Material:

  1. “The Istanbul Convention and the Rejection of European Values”, an article by Katrin Hermann for A Path for Europe (PfEU) (March 2021)
  2. “What is a war crime and could Putin be prosecuted over Ukraine?”, an article by Dominic Casciani for BBC News (May 2022)
  3. “Here’s how war crimes prosecutions work”, an article by Zachary B. Wolf for CNN politics (April 2022)
  4. “How could Vladimir Putin prosecuted for war crimes?”, an article by David Smith for the Guardian (April 2022)