Jetzt, wo die Ukraine in einem Krieg steht, einem weiteren traumatischen Ereignis, das zur Nationenbildung beiträgt, ist eines der zentralen Themen des Projekts Ukrainian Vibes 2022 die schwierige Geschichte des Landes. Klingt interessant, ist aber unklar? Im Folgenden kläre ich auf.

Mein persönliches Interesse an schwieriger Geschichte begann vor etwa einem Jahr, als ich feststellte, dass die meisten historischen Traumata im gesellschaftlichen Bewusstsein noch immer lebendig sind und die ukrainische Gesellschaft auch heute noch stark beeinflussen. In allen modernen Staaten gibt es Perioden, die wir als “geschichtliches Erbe“ bezeichnen, ein Erbe, das noch heute in unseren Köpfen lebt und in der Regel zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten darüber führt, wer wir sind und welche Werte wir vertreten. Diese Vergangenheit ist in der Regel traumatisch, ein Tabu für die Gesellschaft und wird sogar von manchen Regierungen versteckt oder vergessen. Solche traumatischen Erfahrungen resultieren nicht nur aus der physischen Zerstörung eines Staates, sondern auch aus der politischen Manipulation von Fakten, die eine parallele öffentliche Erinnerung schafft. Beispiele hierfür sind die deutschen Erinnerungspraktiken nach dem Zweiten Weltkrieg oder die postsowjetischen Länder, die versuchen, die Erinnerungen an den stalinistischen Terror zu verarbeiten.

Ein weiteres Schlüsselkonzept ist das historische Gedächtnis, das in dem ukrainischen Buch „Kultur des historischen Gedächtnisses“ wie folgt erläutert wird: „Die moderne Wissenschaft interpretiert das historische und nationale Gedächtnis als ein Phänomen des historischen und nationalen Bewusstseins und als ein Schlüsselkriterium der Selbstidentifikation der Nation, als einen Hauptbestandteil ihrer kulturellen und geistigen Sphäre, als eine Art und Weise, Ideen, Wissen, Werte und Figuren der Vergangenheit zu erben, zu bewahren und weiterzugeben, und betrachtet es auf verschiedene Weise als eine öffentliche (nationale), kollektive, korporative und individuelle Erfahrung der Selbsterhaltung und Entwicklung.“ Im Grunde genommen ist das historische Gedächtnis eine gesellschaftliche Erinnerung an die Vergangenheit, die in hohem Maße zur nationalen Identität der Gesellschaft und zu den in der Öffentlichkeit verbreiteten Vorstellungen über das Land, in dem die Menschen leben, beiträgt.

Wir alle haben gehört, dass es wichtig ist, die eigene Geschichte zu kennen, aber warum ist es für eine Nation so wichtig, ihre schwierige Vergangenheit anzuerkennen und Verantwortung dafür zu übernehmen und Wege zu finden, sich an sie zu erinnern? Nun, jede Wunde muss heilen und jedes Trauma muss verarbeitet werden, und das gilt auch für historische Traumata. Eine nicht verarbeitete Vergangenheit schafft einen Riss in unserem sozialen „Gewebe“, ohne dass subtile Mechanismen zu dessen Heilung geschaffen werden. Es gibt sogar einen Begriff, der „zerrissene Erinnerungen“ heißt und das Fehlen der Kontinuität der Erinnerung in einer Gesellschaft beschreibt. Er wird verwendet, wenn die alten Schablonen und Verhaltensregeln nicht mehr funktionieren und die neuen noch nicht geschaffen wurden. Das ist dann der Fall, wenn die junge Generation nicht auf die Erfahrungen der vorherigen Generationen zurückgreifen kann.

Die Erklärung von Oksana Dovgopolova ist diejenige, mit der ich mich persönlich sehr gut identifizieren kann: „… die friedlichen Erfahrungen hören auf zu existieren. Erinnerungen werden irrelevant. Die Welt vor dem Krieg erscheint jetzt unwirklich, es kostet Mühe, überhaupt zu glauben, dass sie jemals existiert hat. Das ist es, was unsere Großeltern und Urgroßeltern während des Zweiten Weltkriegs durchlebten, das ist es, was jeder Ukrainer gerade erlebt, ein weiteres historisches Trauma für die Menschen in meinem Land. Wir leben, und in meinem Fall haben wir schon immer in einer Welt der zerrissenen und ungeheilten Erinnerungen gelebt, ohne es zu merken.”

Jede traumatische Erfahrung wird tendenziell verdrängt und lebt im Hinterkopf der Mehrheit der Bevölkerung. Bleibt es unverarbeitet, trägt es dazu bei, dass die Erinnerungen zerbrechen. Dabei entstehen zwei große Probleme. Erstens: Wenn die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wird, können Menschen extrem leicht manipuliert werden, da sie manchmal in einer Art alternativen Realität leben, in der „Krieg Frieden ist. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Den Regierungen steht es frei, eine nationale Identität für solche Gesellschaften „von oben“ zu schaffen, und die Bürger nehmen an diesem Prozess nicht wirklich teil, so dass sie die Werte, die für die Nation entscheidend sind, nicht kontrollieren können. Zweitens sind nicht geheilte Staaten dazu verdammt, in der Vergangenheit zu leben. Ihre Identitätsvorstellungen sind konserviert; sie sehen ihre Nation nicht außerhalb des Rahmens, der durch eine traumatische Erfahrung starr abgesteckt wurde, weil es zu schmerzhaft und schwierig sein könnte, die so lange verborgene Wahrheit zu erkennen.

Das Werk ist von Yulia Volskaya (Instagram: @y.volskaya)

Jeden Tag beobachten wir die Ergebnisse dieser Prozesse im nationalen Gedächtnis, wenn wir über den fieberhaften Willen zur Wiederholung triumphaler Kriege lesen, wir lesen über die Folgen dieser unverarbeiteten Traumata im Zusammenhang mit den Minderwertigkeitskomplexen der Nationen, und wir spüren den Schmerz unserer schwierigen Vergangenheit in bewussten oder unbewussten Ritualen der Erinnerung, die wir in unserem täglichen Leben praktizieren oder beobachten. Die Art und Weise, wie eine Nation mit ihrer schwierigen Vergangenheit umgeht, spiegelt sich direkt in ihrer Identität wider und prägt die neuen Generationen von Bürgern.

Ich glaube fest daran, dass Nachhaltigkeit nicht bei Umweltfragen, Bildung oder Menschenrechten aufhört. Eine nachhaltige Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die ihre Fehler der Vergangenheit eingesteht, ihre Stärken kennt und in jedem Aspekt des Lebens Verantwortung für ihre Gegenwart übernimmt, sei es die Verantwortung für die Mülltrennung oder die für das Handeln ihrer gewählten politischen Vertreter. Wie meine Lieblingsautoren, die Brüder Strugatskie, sagten: „Aber am meisten fürchte ich mich vor der Dunkelheit, denn in der Dunkelheit sehen alle gleich grau aus. … Und wo das Grau triumphiert, kommt immer das Schwarz an die Macht.“ Und es ist unsere Pflicht, die Dunkelheit zu vertreiben, den Heilungsprozess so produktiv wie möglich zu gestalten für eine nachhaltige Zukunft unserer Gesellschaft, jetzt, wo die Dunkelheit unsere Welt noch nicht vollständig übernommen hat.

Geschrieben von Anna Proskurina.

Übersetzt ins Ukrainische von Anna Proskurina und ins Deutsche von Katharina Bews.

Verwendete Quellen:

  1. Reconstruction of memory – a curatorial project by Lia Dostlieva and Andrii Dostliev with the assistance of “IZOLYATSIA. Platform for Cultural Initiatives”
  2. Culture of historical memory, edited by Yurii Shapoval, Institute of Political and ethnic-national research, Kyiv, 2013
  3. An inconvenient past: the memory of state crimes in Russia and other countries, Nikolay Epplee, Новое литературное обозрение, Moscow, 2020