Auftakt in Österreich

von | 12. Juli 2018

Wien, Österreich | Seit 1. Juli hat Österreich für ein halbes Jahr den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Die European Public Sphere greift diesen Anlass auf und plant für die nächsten Monate eine kleine Reihe von Kuppelveranstaltungen in ganz Österreich. Zum Start bauten wir unseren Europe-Dome auf der Wiener Mariahilferstraße auf, einer der großen Einkaufsmeilen der Hauptstadt. Ines Kanka berichtet über die Ereignisse des Tages und über die zwei Dome-Talks zu der Frage, wie es in Europa weitergeht.

In aller Früh rücken wie mit Sack und Pack an, mit skeptischen Blicken gen Himmel angesichts der sich abzeichnenden Regenwolken. Jetzt heißt es Helme aufsetzen und Hand anlegen! Und es sind genügend helfende Hände versammelt. Neben den entscheidend geübten für den Kuppelaufbau mischen sich auch zwei kleine Kinderhände darunter und suchen nach sinnvoller Tätigkeit. So läuft alles rasch und reibungslos! Unsere Kuppel bekommt gleich mal ihre bunte Haube verpasst, denn der erste Regenschauer kommt bestimmt. In ihrer ganzen Pracht scheint sie auch für einen vorbeikommenden Redakteur der ORF-Sendung “Wien heute” interessant und er schickt gleich einen Kameramann vorbei. Europa hat in den Tagen der Ratspräsidentschaft etwas mehr Aufmerksamkeit als sonst. Als ein willkommener “Farbtupfer” landet die Kuppel so im Bericht über den zeitgleich in Wien stattfindenden offiziellen Besuch der EU-Kommission beim neuen EU-Ratspräsidenten Österreich.

Wenn auch unsere Veranstaltung von weit weniger medialer Aufmerksamkeit begleitet ist, als die offiziellen Ereignisse und Arbeitstreffen mit der österreichischen Regierung, so sind wir doch mit unserem offenen Gesprächsangebot für alle präsent und haben vor, zwei spannende Dome-Talks zu realisieren.

Die druckfrischen Infokarten zu unserer Österreichtour

“Warum fällt es uns leicht, uns zu identifizieren mit solchen Projekten (wie dem Projekt Europa) und warum haben wir viele, viele Zeitgenossen, denen das schwer fällt? Warum haben wir so viele toxische identitäre Bewegungen zur Zeit, also Identitätsbildungen, die für zukunftsfähige Projekte unbrauchbar sind? Aber das sind unsere Zeitgenossen. Wir haben diese Fragen in unseren Bewegungen sehr lange vernachlässigt, weil wir meinten, dass wir diese Identitätspolitik gar nicht brauchen. Das ist gefährlich und verfänglich. Da müssen wir neu nachdenken.”

Wolfgang Tomaschitz

Meinungs- und Sozialforscher und Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich

Um elf Uhr ist alles bereit und die geladenen Gäste und interessierte Menschen, die vom Dome-Talk erfahren haben, sind vor der Kuppel versammelt und lernen sich kennen. Kurz darauf sind dann die Töne der Europa-Hymne “Freude, schöner Götterfunken…” aus dem Innern der Kuppel zu hören, mit denen ein kleiner Horn-Schüler die erste Gesprächsrunde eröffnet, mächtig stolz darauf, auch einen Beitrag zu Europa und zu den Bemühungen der Erwachsenen beisteuern zu können.

Nun entspannt sich ein dichtes Gespräch über den europäischen Integrationsprozess zwischen Finalisierung und Auflösung: Ist der Integrationsprozess nach 70 Jahren an sein Ende gekommen, oder muss er gründlich hinterfragt neu gegriffen werden?

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Wie muss ein neuer Anlauf zu einer europäischen Verfassung aussehen?

Sah man sich vor 15 Jahren noch vor der Finalisierungsphase einer (zuletzt gescheiterten) Europäischen Verfassung, so sind die Einigungsbestrebungen derzeit offenbar an einem Nullpunkt angekommen und hängen sich, nach den Krisen und Stolpersteinen des vergangenen Jahrzehnts, heute an der Migrationsfrage fest, verlieren immer mehr Land an nationalistische Bestrebungen und Rechtspopulisten. Wie konnte es so weit kommen?

Schaffen wir nun eine Wende von einem bisher eher quantitativen europäischen Integrationsprozess hin zu einen qualitativen, auf Differenzierung ausgerichteten, vertieften Prozess der Gemeinschaftsbildung der europäischen Staaten? Und falls weitere “Eingemeindung” von Staaten in die EU anstehen, müsste dann nicht eine gründlichere Aufklärung über die ideellen Werte, die diese Gemeinschaft prägen, vorangehen und zur Voraussetzung gemacht werden?

Braucht es nicht einen neuen verfassungsgebenden Prozess für die Europäische Union, diesmal unter mehr Mitwirkung der Bürgerschaft? Die entscheidende Frage hierbei wäre, ob es dabei nur um einen Diskussionsprozess oder am Ende auch um einen gesellschaftlichen Willensbildungsprozess geht!

Video vom ersten Dome-Talk zum Wiener Auftakt der Österreich-Tour

Aber auch für einen solchen Diskussionsprozess gibt es Wünsche nach einer anderen Akzentuierung, damit die Menschen wieder mit eingebunden werden. Und müssen wir nicht ganz grundlegende Fragen an den europäischen Einigungsprozess stellen? Wozu brauchen wir ihn eigentlich? Warum wollen wir uns vereinigen? Welche äußeren Notwendigkeiten drängen dazu und welche inneren Gründe lassen die Einigung wünschenswert erscheinen?

“Die Grabenkämpfe, die man aus den USA kennt, die kommen auch – vor allem in der Integrationsfrage – immer mehr zu uns rüber, wo die Linken nicht mehr mit den Rechten reden, wo man sich in den sozialen Medien aufs Ärgste beschimpft, da müssen wir ganz simpel, ganz altmodisch wieder mehr miteinander reden und sich ganz bewusst Meinungen in sein Leben holen, mit denen man nichts anfangen kann, denen man vielleicht sogar widerspricht.”

Philipp Weritz

Demokratie21

Identität und die Strukturen Europas

Immer wieder kommen wir auf die Thematik von Identität und Struktur in Europa zu sprechen: Wo wurzle ich mit meiner Identität? Kann der Mensch in übergeordneten Strukturen beheimatet sein oder bleiben diese zu abstrakt, so dass er sich nur in einem kleinen Kulturkreis emotional angebunden fühlen kann? Wie kann ich mich mit dem großen Europa identifizieren? Ist das Identifikations-Angebot etwa eines “Verfassungspatriotismus” dafür nicht viel zu schwach?

Sind die identitären Bewegungen deshalb auf dem Vormarsch, weil es nicht gelingt, sich mit dem Größeren, dem Übergeordneten emotional zu verbinden und darin eine zukunftsfähige Identität zu begründen? Und gilt dabei dann zwangsläufig, dass Identität nur durch Abgrenzung gegenüber Fremdem geschaffen werden kann? Oder kann nicht auch gelten: “Wer hier ist, ist von hier?”

Und zuletzt: Kann die positive Beantwortung der Frage, ob heute noch fehlende demokratische Beteiligungsmöglichkeiten auf nationaler und EU-Ebene eine tragfähige identitätsstiftende Wirkung entfalten könnten, nicht den Ausweg weisen?

 

In dem lebhaften Gespräch werden noch weitere Fragen berührt: Wie hängen Demokratie und Gemeinwohl zusammen? Läßt sich die Sehnsucht nach einfachen Lösungen mit der zunehmenden Komplexität unserer heutigen gesellschaftlichen Lebensprozesse vereinbaren? Wie gelingt es, Freiheit und eine offene Demokratie zu realisieren und gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach Sicherheit in unserer Gesellschaft umzugehen?

Ein Punkt, der auch noch erwähnt werden soll, zeigt sich im Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft. Inwiefern brauchen wir eigentlich den Boden von gesellschaftlichen Strukturen? Kann sich der Mensch nicht sozusagen auch selbst ermächtigen, aus einem “Einfach machen!” heraus? Es ist schnell aufgezeigt, wohin solch ein Ansatz ohne die gesellschaftliche Basis des Rechtsstaates führen kann.

Es zeigt sich, dass der Ansatz der European Public Sphere, offene Gesprächsräume zu schaffen, auf ein wirkliches Bedürfnis trifft, wo es auch darum geht, den anderen Menschen in seiner anderen Meinung auszuhalten und ihm trotzdem mit Respekt zu begegnen?

Gespräche im Anschluss an unsere erste Diskussionsrunde 

Rege Gespräche in der Pause

In der Zeit zwischen den beiden Dome-Talks ergeben sich dann rege Gespräche mit Passanten, die sich immer wieder neugierig der Kuppel nähern, aber sich offensichtlich nicht auf die Teilnahme an einem Gespräch in der größeren Runde einlassen wollen. So hören wir ausführlich von den Einstellungen zweier erklärter AFD-Wählerinnen aus Bayern, die sich auf langjährige Erfahrungen in europäischen Nachbarländern berufen und sich als fortschrittliche, emanzipierte Frauen und selbstbewusste Bürgerinnen präsentieren und sich gleichzeitig voll unsäglichem Frust gegenüber “unserer Frau Merkel” zeigen und voller Groll auf ausländische Mitbürger und sich erschreckend empathielos für Menschen auf der Flucht geben.

Auch eine weitere Begegnung, die wir in der Pause in dieser Art haben, soll uns noch in der zweiten Runde beschäftigen. Auch hier Ablehnung gegenüber Europa. Empathielosigkeit mit ertrinkenden Flüchtlingen und eine Hoffnungslosigkeit, dass sich der Mensch, der seit Jahrtausenden doch nur Krieg führe, nie ändern würde. Da hilft nur zu schauen, dass man selbst seine Schäfchen ins Trockene bringt, dass man selbst zu den Gewinnern gehört. Ein Wunsch von Menschen, die vielleicht selbst sich eher zu den Verlierern zählen. Das Gespräch mit den drei Männern war nicht respektlos. Sie erleben nur nicht, dass irgendwelche Antworten von Europa kommen würden. Auch zeigt sich, dass sie manchen Fake-News hoffnungslos auf den Leim gegangen sind. Das Gespräch dauert eine gute halbe Stunde. Dann ist man sich einig, dass man sich heute nicht mehr wird einigen können und verabschiedet sich, immerhin auch einsichtig darüber, dass man vielleicht doch zu wenig aufeinander eingegangen ist.

 

Das zweite Kuppelgespräch

Der zweite Dome-Talk steht zum einen im Zeichen der Frage, wie es gelingen kann, Europa erlebbar zu machen. Welche emotionalen und rationalen Zugänge zu Europa gibt es und wie hängen diese beiden Ebenen miteinander zusammen?

Dass beide Ebenen zusammen spielen müssen, darüber herrscht Einigkeit. Doch gibt es die Ansicht, dass Europa zunächst auf der emotionalen Ebene, durch persönliche Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern beispielsweise erfahren werden muss, dass Freundschaft, Spaß, Inspiration die Grundlage bilden für eine rationale Auseinandersetzung mit den Lebensnotwendigkeiten der Europäischen Union. Und es wird auch der Ansatz vertreten, dass es zunächst klare Gestaltungsideen, also Gedanken braucht, wie wir z.B. die Flüchtlingsfrage lösen können und dass wir uns dann mit unseren Herzenskräften damit verbinden, also ein umgekehrter Vorgang. Die Notwendigkeit der rationalen Befassung mit Europa ist jedenfalls klar.

Im zweiten Kuppelgespräch ging es spannend weiter!


Zum anderen geht es in der zweiten Gesprächsrunde um die Menschenrechte, die man als bisherigen wesentlichen Beitrag Europas für die Welt betrachten kann und zugleich als eine Aufgabe Europas für die Zukunft. Und es stellt sich die Frage, inwiefern die Menschenrechte mit einem profit-kapitalistischen Wirtschaftssystem vereinbar sind? Ob eine soziale Ausgleichsfunktion des Staates auch in Zukunft noch die nötige Kraft entfalten kann um Gemeinwohl zu sichern? Oder ob wir nicht Wege finden müssen, innerhalb der Wirtschaft selbst gemeinwohlverpflichtet, also jenseits des Profit-Prinzips, tätig zu werden? Dies freilich ohne in die Falle der “real-sozialistischen” Erfahrungen zu tappen und das Freiheitswesen des Menschen zu missachten.

“Es gibt aber auch eine rationale Ebene! Europa muss mich nicht nur im Herzen berühren, sondern es ist auch eine Sache der Vernunft zu sagen: wir müssen zusammenarbeiten, und wir müssen vielleicht als Staaten auch einen Teil unserer Souveränität an die EU abgeben, weil wenn wir gemeinsam entscheiden können, sind wir als Österreicher, als Deutsche oder als Ungarn auch stärker. Ich glaube, dass diese Erkenntnis oft noch nicht ankommt. Es wird auch in der Politik oft nicht so dargestellt.”

Mag. Sabine Radl

Generalsekretärin der Europäischen Bewegung Österreich

Zum Schluss wird noch eine Frage an die Runde unter der Kuppel gerichtet, die uns in ganz Europa und auch uns als Team der European Public Sphere in Zukunft noch beschäftigen wird: Wie lässt sich der Graben überwinden, der sich mehr und mehr in unserer Gesellschaft auftut zwischen denjenigen Menschen, die mit einer Offenheit Neuem gegenüber und mit Zuversicht in die Zukunft der Welt begegnen und denjenigen, die sich immer mehr in ihr eigenes “Schneckenhaus” zurückziehen und ihre angestammten Räume gegenüber Fremdem und Ungewissem verteidigen zu müssen meinen?

Die Antwort auf diese bange Frage hat uns eigentlich schon Friedrich Schiller gegeben in eben dieser “Ode an die Freude”, die – von Ludwig van Beethoven vertont – uns 1972 vom Europarat als Hymne für Europa gegeben wurde. Gibt sie nicht die Richtung an, in die sich unser Handeln entfalten kann, um eine solche tragfähige Brücke zu schlagen?

“Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt;
alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.”

 

Einige Fotoeindrücke von unserem Dome-Event: