Soziale Gerechtigkeit in Europa neu denken

von | 13. Juni 2018

Witten, Deutschland | Am vergangenen Freitag fand in Witten der fünfte Dome-Talk der Nordrhein-Westfalen-Tour statt, die Mehr Demokratie im Rahmen des European-Public-Sphere-Projektes organisiert. Das Thema „Soziale Gerechtigkeit in Europa neu denken“ wurde im Zusammenhang mit der EU Conference Witten 2018 gewählt, die am selben Wochenende in den Räumen der Universität Witten/Herdecke stattfand. Gerhard Schuster war mit unter der Kuppel und fasst seine Eindrücke zusammen.

Nachdem ich die ersten beiden Dome-Talks der NRW-Tour in Bonn und Münster mitgemacht hatte, freute ich mich, dass es in Witten wieder klappen würde.
In den Tagen davor bangten wir schon wegen des Wetters. Es waren starke Gewitter und Unwetter vorhergesagt. Schlimmeres blieb aber aus, den Aufbau der Kuppel konnten wir noch weitgehend im Trockenen abschließen und wir hatten dann die Premiere mit unserem Regenschutz, den wir über unseren Dome zogen, „damit Europa nicht nass wird“, wie Jörg Eichenauer bei der Begrüßung feststellte.
Die Gäste waren zahlreich: Nikolai Fuchs von der GLS Treuhand, Brigitte Krenkers vom Omnibus für Direkte Demokratie, Sören Bärsch und Simon Gutleben von den Jungen Europäischen Föderalisten, Birgit Weinbrenner vom Institut für Kirche und Gesellschaft, Tom Tritschel, Pfarrer der Christengemeinschaft in Bochum, Alfred Groff aus Luxemburg, der auch schon beim Aufbau mitgewirkt hat und in Zukunft die Kuppel bei machen Gelegenheiten begleiten wird. Noch einige andere kamen hinzu, die von dem Kuppelgespräch gehört hatten oder einfach so vorbei kamen.
Das Thema war – in Abstimmung mit einer Konferenz, die an diesem Wochenende in Witten stattfand – „Soziale Gerechtigkeit in Europa neu denken“: Wie hängt die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit damit zusammen, dass sich Menschen immer wieder auch von Europa abwenden? – Kann die Bedeutung der Region in Europa so aufgewertet werden, dass aus regionaler Souveränität auch bessere Wirtschaftsstandards im Ganzen entstehen können? Wie kann der Staat, die Gemeinwohl-Aufgaben überhaupt noch erfüllen, wenn die Steuereinnahmen im globalen Wettkampf um den besseren Wirtschaftsstandard geringer werden? Dies waren einige der Fragen, die unter der Kuppel aufgeworfen wurden.
Video vom Dome-Talk in Witten am 8. Juni 2018
„Es wird gesagt, dass so viel Blödsinn geschieht. Ich wäre sehr dafür, so viel wie möglich Blödsinn zu diskutieren. Und das geschieht in der Schweiz. Es geht dabei um die Frage, wie ich ein Bewusstsein schaffe. Die Volksabstimmung in der Schweiz ist eine Einrichtung, die es z.B. ermöglicht die Frage aufzuwerfen: Was ist eigentlich Geld? So können in großem Umfang diese Dinge in der Öffentlichkeit besprochen und bearbeitet werden.“
Tom Tritschel

Pfarrer, Christengemeinschaft in Bochum

Auf letztere will ich etwas eingehen, denn wieso denken wir „das Soziale“ und „die Wirtschaft“ überhaupt als Gegensätze. Ist Wirtschaft – elementar und jenseits von Ideologien gedacht – nicht per se das gesellschaftliche Funktionssystem, das die Aufgabe hat, gemeinwohl- und ökologieorientiert die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen? Indem wir dem Staat die Aufgaben im Sozialen übertragen haben, scheint der Gegensatz „Privat“ vs. „Staat“ wie natürlich gegeben und das private Profitmotiv als sakrosankt. Doch können wir Wirtschaft auch jenseits dieses Gegensatzes in einem „öffentlich-rechtlichen“ Charakter denken, in dem die freie ökonomische Initiative gegeben ist, der Profit aber Gemeinwohl-Aufgaben und der Sicherung gerechter Einkommen dient. Die Finanzierung eines solchen Wirtschaftssektor müsste durch ein dienendes Bankwesen erfolgen, wie es die Europäische Kreditinitiative mit einer Europäischen Bürgerinitiative in die Diskussion zu bringen versucht.

Was die Frage nach gerechten Einkommen betrifft, so wurde auch in Witten die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens aufgeworfen. Warum denken wir immer daran „Arbeit“ zu sichern, fragte etwa Tom Tritschel und warum sollte es nicht eigentlich ganz richtig sein, „Arbeitsplätze“, wo auch immer das möglich ist, von Robotern übernehmen zu lassen?

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Menschen sind nicht davon abhängig, Arbeit zu haben, sondern sie brauchen ein Einkommen, um überhaupt teilnehmen zu können an der Erfüllung der Aufgaben, die in unserer Gesellschaft anfallen. Arbeit und Einkommen muss man als getrennte Dinge betrachten. In der Schweiz kann durch die direkte Demokratie – die unter der Wittener Kuppel auch wieder eines der zentralen Themen war – solch ein Thema wie das Grundeinkommen viel stärker diskutiert werden. Es ist möglich, dass Utopisches, was man aus den Denkgewohnheiten noch vielfach für ganz unmöglich hält, ist Spiel bringt.
 
Doch wurden diese Themen – Steuern und Standortwettbewerb, Staat und Wirtschaft, Arbeit und Einkommen oder Stärkung der Demokratie repräsentativ oder direkt-demokratisch – nicht unkritisch diskutiert. Für die Jungen Europäischen Föderalisten etwa steht eine Stärkung des Europäischen Parlaments durch ein Zwei-Kammern-System im Vordergrund. Oder es wurde als naheliegender gedacht, die Bekämpfung von Steuerflucht und Schattenwirtschaft in den Fokus zu nehmen. Dass die Sicherung von Arbeitsplätzen nicht wichtig sei, wurde ebenfalls nicht ohne Widerspruch stehengelassen. Hier gibt es weiterhin Bedarf der Verständigung, wie unter den jeweiligen Blickwinkeln die Dinge anders gesehen werden und wie Problemen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen beizukommen versucht wird. Einem solchen In-Begegnung-Bringen der Gedanken wollen ja die Kuppelgespräche der European Public Sphere dienen!

Innerhalb der lebendigen Diskussion kam Nikolai Fuchs zu der Feststellung, dass eigentlich hier die ganz elementaren Fragen bearbeitet würden und es im Engeren ja gar nicht um Europa gehe.

Doch gerade, weil der Integrationsprozess Europas, die Ausgestaltung dieses Gemeinwesens sui generis noch nicht abgeschlossen ist, ja es sich abzeichnet, dass die Frage nach einer Verfassung für Europa bald wieder bearbeitet werden wird, ist dies kein Gegensatz. Europa ist auf unserer Erde jene Region, in der die elementaren Fragen nach der gesellschaftlichen Gestaltung aufgeworfen sind. Europa hat die Chance in den Herausforderungen, neue Wege zu beschreiten.
Geht es in Europa nur darum, zwischen Ost und West, zwischen den Wirtschaftsmächten Amerika und Asien sich behaupten zu können oder kann es auch darum gehen, in Europa etwas in Spiel zu bringen, das auch Schritte in die Richtung von globaler Solidarität setzt?
Die bisherigen Gespräche unter unser Kuppel waren so reichhaltig und lebendig, dass ich hoffe, dass wir bald die Möglichkeit haben werden, neben den kurzen Zusammenschnitten auch die vollständigen Gespräche als Mitschnitt anbieten zu können. Vielleicht machen wir mit dem Wittener Gespräch einen Anfang dazu. Ob dies alles so gelingt, hängt auch davon ab, wieviel Unterstützung unser Projekt erfährt.
Einige Fotoeindrücke von unserem Dome-Event – Fotos von Dana Schmidt: